- Friedensnobelpreis 1909: Auguste Beernaert — Paul d'Estournelles
- Friedensnobelpreis 1909: Auguste Beernaert — Paul d'EstournellesMit den Preisträgern wurden die Haager Friedenskonferenzen als Meilensteine auf dem Weg zu einer Welt gewürdigt, in der die Nationen Konflikte friedlich beilegen.BiografienAuguste Marie François Beernaert, * Ostende (Westflandern) 26. 7. 1829, ✝ Luzern 6. 10. 1912, belgischer Jurist und Politiker, 1884-94 Ministerpräsident und Finanzminister, 1895-1900 Präsident des Repräsentantenhauses, 1899/1907 Leiter der belgischen Delegation auf den Haager Konferenzen.Paul Henri Benjamin Balluat Baron de Constant de Rebecque d'Estournelles, * La Flèche (Pays de la Loire) 22. 11. 1852, ✝ Paris 15. 5. 1924, französischer Schriftsteller, Diplomat und Politiker, 1899/1907 Vertreter Frankreichs auf den Haager Konferenzen, 1903 Gründer der Groupe parlementaire de l'arbitrage international.Würdigung der preisgekrönten LeistungDie Sehnsucht nach einer Welt ohne Krieg ist wohl so alt wie die Menschheit selbst, doch erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden Vereinigungen, die das Streben nach Frieden und Friedenserhaltung zu ihren wichtigsten Zielen erklärten — zunächst in den USA, dann in Großbritannien, in Frankreich und später in vielen anderen Ländern der Erde. Um die Mitte dieses Jahrhunderts fanden in Europa auch die ersten Friedenskonferenzen mit internationaler Beteiligung statt, wie 1856 in Paris oder 1867 in Genf, das sich seither zu einer Art Welthauptstadt der Friedensbewegung entwickelt hat. Diesen Rang muss Genf allerdings gegenüber einer niederländischen Stadt behaupten: gegenüber Den Haag's-Gravenhage, das sich als Sitz des Internationalen Gerichtshofs, des Ständigen Schiedsgerichtshofs und der Völkerrechtsakademie mit einem »Friedenspalast« als Wahrzeichen schmückt.Dort fanden auf Initiative des russischen Zaren Nikolaus II. und des US-Präsidenten Theodore Roosevelt um die Wende zum 20. Jahrhundert zwei internationale Friedenskonferenzen, die so genannten Haager Friedenskonferenzen, statt. An der ersten Konferenz von Mitte Mai bis Ende Juli 1899 nahmen Vertreter von 26 Staaten, an der zweiten von Mitte Juni bis Mitte Oktober 1907 Delegierte aus 44 Staaten, darunter die beiden Friedensnobelpreisträger des Jahres 1909, Auguste Beernaert und Paul d'Estournelles, teil. Sie wollten Regeln für die friedliche Beilegung von Konflikten, die Begrenzung von Kriegen, die Sicherung des Friedens und die Abrüstung finden. Ihr wichtigstes Ziel erreichten die Haager Friedenskonferenzen zwar nicht, wenige Jahre nach der Konferenz von 1907 brach der Erste Weltkrieg aus, dennoch wurden mehrere bedeutende Abkommen geschlossen und die Fundamente für spätere Staatenvereinigungen zur Friedenssicherung wie den Völkerbund und die Vereinten Nationen gelegt. Und am Erfolg der Konferenzen hatten Beernaert und d'Estournelles maßgeblichen Anteil.Erfolge und MisserfolgeAngesichts der gegen Ende des 19. Jahrhunderts äußerst labilen politischen Lage in der Welt, des Rüstungswettlaufs zwischen den Großmächten und der nationalistischen Stimmung in vielen Ländern waren sich die Delegierten bewusst, dass die Zeit für die Friedenssicherung drängte und dass sie sich am Ende der Konferenzen vermutlich mit kleinen Erfolgen würden zufrieden geben müssen. Wenn es schon nicht gelang, den Krieg zu verhindern, dann wollte man ihn zumindest ein klein wenig humaner machen, sich auf bestimmte Grundregeln zum Schutz der Soldaten und der Zivilbevölkerung in Kriegen einigen. In der Haager Landkriegsordnung, dem auf den Haager Friedenskonferenzen verabschiedeten Abkommen über die »Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs«, sind diese Regeln zusammengefasst. Sie betreffen die Behandlung von Kriegsgefangenen, das Verbot der Verwendung von Giftgasen und der Beschießung unverteidigter Ortschaften, den Schutz des Privateigentums in besetzten Gebieten oder die Rechtsstellung der Spione.In einem weiteren wichtigen Abkommen beschlossen die Delegierten die Errichtung des Ständigen Schiedshofs (auch Haager Schiedshof oder Internationaler Schiedsgerichtshof). Der Grundgedanke dabei war, dass Staaten ihre Konflikte nicht mit den Mitteln des Kriegs, sondern durch die Vermittlung eines unabhängigen Schiedsgerichts lösen sollten. 1901 nahm der Schiedsgerichtshof seine Arbeit auf, und ein Jahr später bestand er bei der Schlichtung eines Streits zwischen den USA und Mexiko die erste Bewährungsprobe. Bis 1932 fällte dann das Gericht fast 20 Sprüche. Seither ist es nicht mehr angerufen worden.Die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit bei internationalen Konflikten wurde vor allem von Deutschland als Eingriff in seine Souveränität abgelehnt. Das deutsche Kaiserreich wandte sich auch gegen die Rüstungsbegrenzung. Eine Einigung in der Abrüstungsfrage kam daher auf den Haager Friedenskonferenzen nicht zustande, der Rüstungswettlauf beschleunigte sich im Gegenteil nach der zweiten Konferenz noch, und die für 1915 oder 1916 geplante dritte Konferenz fiel aus, weil die Hochrüstung beinahe zwangsläufig und unaufhaltsam zum Ersten Weltkrieg geführt hatte.Mit Beharrlichkeit und Ideenreichtum zum ZielAuf Fotos, auf denen die beiden Nobelpreisträger gemeinsam abgebildet sind, sind zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten zu sehen: Auguste Beernaert, ein stämmiger, ernst blickender Flame, und der eher zierliche Paul d'Estournelles. Beernaerts größte Stärke war seine Ausdauer, und seinem Lebensmotto »Die höchste Tugend in der Politik und die erste Voraussetzung für den Erfolg ist die Beharrlichkeit« gemäß folgte der belgische Beamtensohn geradlinig seinen Prinzipien und Überzeugungen. Paul d'Estournelles, der zweite in dem Gespann, das die Haager Friedenskonferenzen zu ihren unbestrittenen Erfolgen führte, steuerte dagegen vor allem Kreativität und diplomatisches Geschick bei. Vielseitig interessiert, sprachgewandt und mit Titel und Vermögen einer alten französischen Adelsfamilie ausgestattet, reiste der Diplomat und spätere Pazifist durch die Welt, um Verbindungen zu knüpfen und mit Aufsehen erregenden Aktionen für die Sache des Friedens und der Schiedsgerichtsbarkeit zu werben. Daneben fand er noch Zeit, um beispielsweise altgriechische Texte zu übersetzen, viel beachtete Bücher über die USA und Tunesien zu verfassen oder standesgemäße Hobbys wie Segeln, Fechten oder Autorennsport zu pflegen.Während sich d'Estournelles gewissermaßen als internationales Sprachrohr der Friedensbewegung große Verdienste erwarb, war Beernaert mehr das »Arbeitspferd«, das auf den Haager Friedenskonferenzen oder zuvor auf Seerechtskonferenzen, als Mitglied des Ständigen Schiedshofs oder der Interparlamentarischen Union seine Pflicht tat, gewissenhaft und kompromisslos. Sein beharrliches Eintreten für die Menschenrechte bescherte ihm nicht nur Freunde, etwa als er sich als Ministerpräsident gegen die Kinderarbeit in belgischen Bergwerken oder gegen die Ausbeutungspolitik des belgischen Königs Leopold II. im »Unabhängigen Kongostaat« wandte. Auch sein Einsatz für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft und das allgemeine Wahlrecht stieß auf erheblichen Widerstand.P. Göbel
Universal-Lexikon. 2012.